Wunsch, Indianer zu werden ...
... heißt eine 1913 veröffentlichte Prosa-Miniatur Franz Kafkas: “Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über den zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf”. (9)
Frei vom Zaumzeug der modernen Zivilisation, losgelöst vom Boden (der Tatsachen) bedarf es in den Weiten der Fantasie nicht einmal mehr eines Pferdes für den rasanten Ritt. Kafkas Sehnsuchtsmetapher mit Alptraumkolorit geht literarisch über ein kulturelles Fantasma hinaus, das nach der ersten Begegnung mit den Ureinwohnern Nordamerikas stereotype Züge gewonnen hatte. Zu Beginn der Eroberung galten die Eingeborenen noch als gefährliche Krieger, deren martialische Rituale dem Gegner den Skalp kosten konnten. Mit der militärischen Unterlegenheit verklärte sich das Bild zum Edlen Wilden, der zivilisationsfern, frei und in Einklang mit der Natur dem degenerierten Westler einen kulturkritischen Spiegel vorhielt. Seit James Fenimore Cooper 1823 in The Leatherstocking Tales den Trapper Natty Bumppo, genannt Lederstrumpf, erfand, geistern Vertreter des naiven Naturvolkes durch die Abenteuerliteratur. Sie verkörpern das Alter Ego des westlichen Helden, dessen verlorene Unschuld und zivilisatorisch gekappte Verbindung zur Natur.
Als Kafka 1913 seinen Wunsch zu Papier brachte, war Europa seit Jahrzehnten im Indianerfieber. Drei Jahre zuvor hatte Max Slevogt Coranna. Eine Indianergeschichte illustriert. August Macke brachte Indianer auf Pferden und Reitende Indianer beim Zelt auf die Leinwand, 1922 wird Otto Dix Angreifende Indianer darstellen. Völkerschauen zogen von Stadt zu Stadt und zeigten eigens engagierte Indianer in nachgebildeten Dörfern bei vermeintlich typischen Tätigkeiten. Vertreter des Sioux- und des Mohawk-Stammes mit ihren langen dunklen Haaren, dem Federschmuck und der Lederkleidung entsprachen den Vorstellungen der Europäer mehr als andere Stämme wie die Bella-Coola-Indianer. Der gut informierte Europäer wusste, wie ein Indianer auszusehen hatte. Die Schundliteratur lieferte untrügliche Merkmale und markige Westernhelden wie Buffalo Bill. Ab den 1870er Jahren tourte “Büffel-Wilhelm”, eigentlich William Frederick Cody, mit seiner Wild-West-Show durch Europa, erntete seinen Groschenheftruhm und bestätigte in seinem Spektakel alle Indianerklischees. Das gigantische Aufgebot von 800 Männern, 500 Pferden und sensationellen Schaukämpfen zwischen Rothäuten und Bleichgesichtern zog Neugierige in Scharen auf die Festplätze.
Einer Anekdote nach habe sich der große Westernheld Karl May anläßlich einer Show in Dresden zunächst geweigert, den Indianerfeind und Büffeltöter zu besuchen, dann aber doch eingewilligt und die Gelegenheit genutzt, mit den Darstellern ein paar Worte in ihrem indianischen Dialekt zu wechseln. Spätestens an diesem Punkt wird die Episode, von Mays zweiter Frau Klara nach seinem Tod erzählt, zum Versatzstück der erfundenen Identität des Erfolgsschriftstellers. Dr. Karl May war ein weitgereister Mann, der zunächst aus dem Orient berichtete und dann im Wilden Westen Amerikas zum Blutsbruder des Indianerhäuptlings Winnetou wurde. Mehr und mehr war der anfängliche Schundschreiber in die Rolle seiner literarischen Alter Ego Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand hineingeglitten. Auf Vorträgen gab er an, 1.200 Sprachen zu sprechen und zeigte seine Narben. Seine Villa Shatterhand in Radebeul bei Dresden war mit eindrucksvollen Reisetrophäen ausstaffiert: “Über meinem Kopfe Winnetous Silberbüchse, links am Fenster der doppelläufige Bärentödter, am anderen Fenster der kleine Henrystutzen. Vom Schreibtisch herunter hängt meine Häuptlingsflagge, ein einziges Stück Baumbast, mit Menschenblut bemalt, jedes Viereck mit dem Blute eines Feindes, den ich im Nahkampf mit dem Messer erlegt habe. Darunter ein von mir nur mit dem Messer geknickter wilder Büffel. Links unten ein selbstgeschossener Grizzlibär. Oben der selbsterlegte afrikanische Löwe; über demselben der Fuß des Rhinoceros, auch selbst geschossen; darüber ein Panther, welcher mich während des Schlafes überfiel. Hoch oben über mir der Kopf eines Elks, aus dessen Fell mein Prairie-Anzug gefertigt ist.” (10)
Alles selbstgeschossen, selbsterlegt, selbsterlebt – alles selbsterfunden. Die Relikte der überstandenen Gefahren waren eine Ansammlung von Zusammengekauftem. Silberbüchse und Bärentöter stammten von einem Dresdner Waffenschmied, Winnetous Locke war aus Pferdehaar. Erst mit 56 Jahren ging der Reiseschriftsteller, der Sachsen für seine Abenteuer in exotischen Gefilden zuvor nie verlassen hatte, auf eine sechszehnmonatige Exkursion in den Orient und zerbrach fast an dem Widerspruch zwischen erdachter und realer Fremde. Eine ebenso ernüchternde Amerika-Fahrt folgte 1908. Das von Karl May mit großer Sympathie geformte Indianerbild erfüllte die Erwartungen der Leser gerade deshalb, weil der Schöpfer Winnetous nicht auf wirkliche Begegnungen zurückgreifen konnte. Er machte sich die Indianerträume seiner Zeitgenossen zu eigen und gab sie ihnen bunt illustriert zurück, mit sich selbst ins Bild geschoben als Indianerfreund Old Shatterhand. Zwei ungleiche Literaten wie May und Kafka wünschen sich zur gleichen Zeit in die Weite der erdachten Prärie, der ein gewinnt darin seine Freiheit und sich selbst, der andere droht sich selbst und den Halt zu verlieren. Im Leben war es genau andersherum.
(9) Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen, hrsg. v. Paul Raabe, Frankfurt/ M. 1970, S. 18
(10) Dieter Sudhoff und Hans-Dieter Steinmetz: Karl-May-Chronik, Bd. 1, Radebeul 2005, S. 520
Auszug aus: Mit fremden Federn. Eine kleine Geschichte der Hochstapelei, Hamburg 2018, S. 80 - 85
Mit freundlicher Genehmigung von Hoffmann und Campe.