Anett Kollmann

Autorin - Biografin - Literaturwissenschaftlerin



Leseprobe Kein Glück ohne Freiheit. Die Familie Schopenhauer


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Arthurs Frauen


Adeles Liebesleben war ein Fiasko. Bei Arthur lief es nicht besser. Bevor die Geschwister sich entzweiten, genoss Adele die zweifelhafte Gunst, in seine Frauengeschichten eingeweiht zu werden. Anhänger einer romantischen Metaphysik der Geschlechter war Arthur nicht, zumindest tat er so. Er habe außer ihr nie eine Frau ohne Sinnlichkeit geliebt, gestand er Adele. „Du närrischer Mensch“, antwortete sie, „ich habe sehr gelacht“. Sie überhörte die Diskreditierung ihres Geschlechts und gab zu überlegen, ob seine Liebe der Schwester oder ihrem „eigentlichen Wesen“ gelte. Dann könne er eine Andere „fast – sieh‘, ich sage fast“ ebenso lieben und es bestand noch Hoffnung für das Liebesglück des Bruders.

In Dresden hatte er eine Affäre. Vermutlich war sie eine Kammerzofe, was ernste Absichten bei einem vermögenden Bürgerlichen wie Arthur ausschließen würde. Für die junge Frau wurde die Sache ernst, als sie ein Kind zur Welt brachte. Arthur war bereits nach Italien abgereist und bat Adele, sich in Dresden diskret nach den beiden zu erkundigen. „Ich hoffe zu Gott, Du hast sie nicht betrogen“, rüffelte ihn die Schwester, „denn Du bist ja gegen Alles wahr, warum denn gegen so ein armes schwaches Ding nicht?“ Dass ihm zuweilen „bange“ werde, fand sie eine „billige Strafe“. Ihr schmeichelte das Vertrauen des Bruders, obwohl sie „das Ganze fremd und unangenehm“ berührte. Adele nahm sich des brüderlichen Versehens an, um die Angelegenheit mit Geld und Anstand regeln. Ob sie das Kind sehen würde, konnte sie dem Bruder nicht versprechen, „einer von Deinen unbegreiflich wunderlichen Einfällen“, denn es war noch ein „fremder Mann“ im Spiel, ein weiterer Verehrer, vielleicht sogar ein Ehemann oder der Vater der Geliebten? Es sei dahingestellt, ob Arthur wahres väterliches Interesse hatte oder Adele nur misstrauisch losschickte, um seine Pflichten durch die Feststellung einer ausreichenden Ähnlichkeit des Kindes zu bestätigen. Weil nur Adeles Antworten erhalten sind, bleibt zu vermuten, dass Arthur daher vom „Testieren“ sprach und dass er „im gewöhnlichen engen Sinn“ bereit war, für das Kind zu sorgen. Er benehme sich rechtlich und gut, befand Adele.

Durch Arthur machte Adele mit der prosaischen Liebe Bekanntschaft, ein Handel, der ihr „so ganz unbegreiflich“ war und „nicht ohne Verachtung“ zu denken. Adele war nicht sittlich empört, sondern romantisch enttäuscht. Ihr Mitgefühl galt der „Unglücklichen“ und später dem Bruder, als er ihr nach wenigen Monaten vom Tod der Tochter schrieb. Mit ihr war die Hoffnung gestorben, dass Arthur in Zukunft weniger einsam sein würde. Das Kind hätte ihm Freude gemacht, er wäre nicht so allein gewesen und hätte für jemanden zu sorgen gehabt, glaubte Adele, noch voller aufrichtiger Liebe und Vertrauen zum Bruder. Vielleicht hätte die kleine Tochter mit unbedingter Liebe Arthurs wilden Groll besänftigen können oder sie hätte darunter gelitten. Keine Spekulation ist, dass Arthur auf seiner Italienreise bereits einer neuen Liebschaft verfallen war.

Nach Arthurs Philosophie war der Geschlechtstrieb bejahter Wille, eine Ursache für das menschliche Leiden; Triebverzicht und Kontemplation als bewusste Selbstverneinung des Willens wirkten dagegen. In der Praxis konnte Arthur weiblichen Reizen nicht widerstehen. Er kaufte sie, mied aber Bordelle aus Angst vor Ansteckung. Später habe ihn, so berichtet ein Kolporteur, eine „herrliche Erfindung“ der Naturwissenschaft begeistert, ein Mittel, mit dem den Forderungen der Natur Genüge leisten könne ohne Gefahr, wie bisher immer, in Bordellen etwa angesteckt zu werden. Es bestehe darin, „daß man in einem Glas voll Wasser eine Porzion Chlorkalk auflöst und dann nach dem Coitus den Penis darin badet, wodurch das allenfalls empfangene Gift des gänzlichen zerstört werde“.

Es war immer derselbe Frauentyp, bei dem ihm der hochphilosophische Verstand in die Hose rutschte, selbstbewusste Verführerinnen, denen es mit Esprit und Charme ein Leichtes war, männliche Sinne zu verwirren. Die Jagemann hatte es bei dem Zwanzigjährigen ohne Absicht vermocht und auch die berüchtigte Weimarer Herzensbrecherin Tinette von Reitzenstein konnte ihn unter ihre „Anbeter“ zählen. Christiane Henriette von Reitzenstein, geboren 1784, war „Philosophin und Betschwester“ in einem, wie Adele fand. Vielen Zeitgenossen galt sie als Vorbild der Luciane in Goethes Wahlverwandtschaften, die wie sie schön und gütig war, zugleich aber eitel, frivol und darauf aus, alle Männer in ihren Bann zu schlagen wie „ein brennender Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht“. Arthur war nur ein unbedeutendes Teilchen im Kometenschweif der Reitzenstein gewesen, das sie gar nicht bemerkte bis sie 1813 Weimar verließ.

Auf Arthurs erster Italienreise begegnete ihm in Venedig wieder eine Frau dieses koketten Schlages, Teresa Fuga. Manche Biografen sehen in ihr eine gewöhnliche „puttana“ aus einem Hurenhaus. Um das zu behaupten weiß man zu wenig über diese Frau, aber Engstirnigkeit kennt nur diese Kategorie weiblicher Liebeslust. Teresa Fuga war wohl Mitte Zwanzig; ein Täufling ihres Namens ist im Muraner Kirchenbuch für den August 1793 notiert, was ohne weitere Anmerkungen eine einfache Herkunft nahelegt. Vielleicht war sie eine „donna di teatro“, mehr Maitresse als Hure, eine Gelegenheitsprostituierte, wie sie das Jahrhundert zu Tausenden hervorbringen wird. Gewiss war Arthur nicht ihr einziger Verehrer. Es hatte noch andere „per far la amore“ gegeben, Engländer, die sie nun nicht mehr habe, wie sie ihrem „caro amico“ schrieb, und auch einen Freund, der aber für zwei Wochen auf dem Land sei. Er könne also kommen, sie erwarte ihn von ganzem Herzen, liebe ihn, wolle ihn in ihre Arme schließen und Zeit mit ihm verbringen. Den Liebesbrief an „Arthur Scharrenhans“ bewahrte der Adressat für immer auf, zusammen mit erotischen Versen in ihrer Handschrift – beides üblicherweise nicht im Portfolio einer gewöhnlichen „puttana“. Die Romanze war eine „Liebesgeschichte ohne Liebe“, wie es die Schwester nannte, die ihrerseits schon durch gedachte Küsse in erotischen Schwindel geriet. „Möchtest Du doch nicht ganz die Fähigkeit verlieren, eine Frau zu schätzen, wenn Du mit dem Gewöhnlichen und Gemeinem in unserem Geschlecht Dich abgiebst und führte Dir der Himmel einmal eine Frau zu, für die Du etwas tieferes empfinden köntest, als diese Wallungen, die ich nicht einmal verstehe“.

Zur biografischen Verwirrung trägt bei, dass Arthur der Schwester nicht von Teresa Fuga geschrieben hatte, sondern von einer geheimnisvollen anderen Frau. „Die Geliebte ist reich, sie ist von Stande gar und doch meinst Du, sie werde Dir folgen wollen?“, wunderte sich Adele, „dazu gehörte Liebe!“ Sie scheint pikiert, dass eine „Dame“ ihren schroffen Bruder so lieben könnte wie sie. Arthur soll später in Gesprächen „rührend“ und „mit großer Wehmut“ von einem ernsthaften Liebesverhältnis in Rom oder Florenz erzählt haben. Sogar geheiratet hätte er, wenn nicht „ein unübersteigliches Hindernis“ eingetreten wäre. Ein anderer Kolporteur wusste das Hindernis näher zu beschreiben: Schopenhauer sei in Florenz mit einer Dame aus vornehmen Stand verlobt gewesen, habe die Verlobung aber aufgelöst, als er erfuhr, dass sie lungenkrank sei. Ob Arthur mit der Trennung seinen Ängsten vor Krankheit und Verlust vorauseilte und wer die Frau war, die ihn beinahe zum Ehemann gemacht hätte, ist bislang rätselhaft.

Die Liebschaften blieben zurück, als Arthur, aufgeschreckt durch Muhls Bankrott, vorzeitig aus Italien zurückkehrte, um zu erkunden, wo er mit seinem Wissen handeln könnte. Heidelberg, Göttingen oder Berlin kamen in Frage. Berlin gefiel ihm am wenigsten, wegen der „fatalen Lage in Sandwüste“ und seiner „Theuerung“.  Aber nur Martin Hinrich Carl Lichtenstein, Rektor an der Universität der preußischen Hauptstadt, konnte ihm Hoffnung auf eine Habilitation machen – mit aller möglichen Bereitwilligkeit und Gefälligkeit seitens der Fakultät, aber ohne größere Aussichten auf ein Honorar und eine nennenswerte Teilnehmerzahl bei den Vorlesungen.  Eine Honorarprofessur zahlten die Studenten, erst später der Staat. Die Gunst der Fakultät war Arthur wichtig, ansonsten könne er „höchst bequem und anständig“ von seinen Zinsen leben. Und hinsichtlich der „Frequenz“ seiner Vorlesungen vertraue er ganz auf sich selbst, „ich will mir schon ein Auditorium schaffen“, schrieb er dem früheren Lehrer selbstgewiss.

Arthur packte ein Bewerbungspaket mit seinen drei Büchern, dem Doktordiplom, einem Curriculum vitae und mit einem Schreiben an den Dekan August Boeckh. Er möge ihn schon in den Vorlesungskatalog aufnehmen und die Stunde dafür auswählen, „am paßendsten wohl die, wo Herr Prof: Hegel sein Hauptkollegium liest“, aber in keinem Fall zwischen 1 und 4 Uhr.  Das klang gewohnt vermessen. Seinem Freund Osann gestand er, nicht ohne eine gewisse unbehagliche, ja peinliche Empfindung in den neuen Wirkungskreis und zum ersten Mal ins bürgerliche Leben zu treten. Er war sogar verunsichert, ob man von ihm einen Vortrag, eine Vorlesung, eine mehr rhetorische oder eher didaktische Antrittsrede erwarte. Mit dem ruhigen Zuspruch, in den sich Adele Jahre später verlieben wird, nahm Osann dem akademischen Neuling die Befangenheit.  Das Desaster konnte er nicht verhindern.

Von den über 1.000 Studenten der Universität verirrten sich kaum mehr als fünf in Arthurs Vorlesung, auch in den nächsten Semestern füllte sich der Hörsaal nicht. Gegen Hegel, den Lieblingsfeind, kam er nicht an, den „Unsinnschmierer und Kopfverderber“, der Fichtes Lehrstuhl geerbt hatte, die Nachfolge des Philosophen, dessen Wissenschaftslehre Arthur schon als Student enttäuscht zur „Wissenschaftsleere“ verballhornt hatte.  In seiner Abhandlung Über die Universitätsphilosophie wird Arthur später mit Fichte, Schelling und Hegel, den Koryphäen des deutschen Idealismus, abrechnen.  Enttäuscht über die ausbleibende Anerkennung trat er 1822 den Rückzug an. Er bat Osann, zu überprüfen, was über ihn geschrieben würde, falls es noch passierte, und flüchtete nach Italien, um dort weiterzumachen, wo er die Reise unterbrochen hatte. „Sehn und Erfahren ist so nöthig wie als Lesen und Lernen“, erklärte er Osann trotzig. Er sei so gesellig wie lange nicht und mache sein Leben so genussreich wie möglich. „Mit Italien lebt man wie mit einer Geliebten, heute im heftigen Zank, Morgen in Anbetung: – mit Teutschland wie mit einer Hausfrau, ohne großen Zorn u. ohne große Liebe“.  Während Arthur das süße Leben und die Kunstschätze von Florenz genoss, braute sich zu Hause von neuem Unheil zusammen. Auf dem Rückweg blieb er zunächst wegen einer „Verkettung von Krankheiten“ für mehr als ein Jahr in München und zur Kur in Bad Gastein hängen – „Hämorrhoiden mit Fistel, Gicht, Nervenübel“ und „das rechte Ohr ganz taub“. Er habe den ganzen Winter in der Stube zugebracht.  Dem anstehenden Ärger in Berlin konnte er dadurch nicht entkommen.

Vor seiner Abreise hatte sich Arthur wieder einmal gezankt, und zwar mit einer Nachbarin, die ihn mit Gezeter in seinem Vorraum gestört hatte. „Der Lerm aber ist die impertinenteste aller Unterbrechungen“, wird er sich später theoretisch ereifern.  Am 12. August 1821 löste er das Problem handgreiflich. In gesteigerter Wut warf er das „alte Luder“, das partout nicht gehen wollte, eigenhändig auf die Straße. Caroline Louise Marquet, von Beruf Näherin, erlitt einen Schock, lähmende Blessuren und ein bleibendes Zittern, das ihre Arbeit behindere. So gab sie es vor Gericht an, wo sie, zänkisch wie Arthur, den Angreifer verklagte. Nach fünfjährigem Prozessieren um Wort und Tat bekam sie in oberster Instanz Recht. Arthur musste eine jährliche Leibrente von 60 Talern sowie Kur- und Prozesskosten zahlen.  Es ist strittig, ob er damit gut oder schlecht wegkam. Das Gerichtsurteil verdross ihn umso mehr, da ihm gerade fast die Hälfte des in Danzig geretteten Vermögens bei einer Anlage in Mexiko verloren gegangen war, obwohl er Alexander von Humboldt als Regionalkenner um Rat gebeten hatte. Die Marquet-Affäre blieb Arthur ein Ärgernis, das erst mit dem Tod der Frau nach zwanzig Jahren endete. Auf dem Totenschein kommentierte er „obit anus, abit onus“, ein Wortspiel, das er aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste kannte – die Alte stirbt, die Last geht.

Und noch eine unangenehme Überraschung erwartete ihn bei seiner Rückkehr nach Berlin im Frühsommer 1825: seine Geliebte hatte ein Kind von einem anderen Mann bekommen.  Bei aller Libertinage, die Arthur in Italien genossen hatte, war ihm das einen Vorwurf wert. Einer Fortsetzung des Verhältnisses stand das fremde Kind jedoch nicht im Weg. Caroline Richter war zur Zeit der Niederkunft einundzwanzig Jahre alt, bereits Mutter eines frühverstorbenen Sohnes und hatte eine Anstellung als Choristin an der Berliner Oper. Ihre Korrespondenz mit dem Intendanten des Hauses legt nahe, dass auch diese Geliebte eine gewitzte, selbstbewusste Frau nach Arthurs Geschmack war. Später wird sie sich Caroline Medon nennen, ein Name, den sie nach und nach so in amtliche Dokumente einschrieb, dass sie am Ende als Witwe eines preußischen Geheimsekretärs Gustav Medon galt, den es gar nicht gab. Drei Jahre nach der Geburt des Sohnes war sie wieder schwanger. Dieses Mal hätte Arthur der Vater sein können, aber der Nachwuchs blieb aus. Das zehnjährige Verhältnis mit Caroline Richter war eine geheime Liebschaft mit einem Mädchen, das er sehr geliebt habe, vertraute Arthur seinen Freund Anthime an.  Eine Frau zum Heiraten war sie nicht. Dazu hatte er um 1828 eine andere im Blick: die siebzehnjährige Flora Weiß, fast noch ein Kind, was ihm besonders gefiel, weil er hoffte, sie in der Ehe nach seinen Vorstellungen formen zu können. Der Vater, der Berliner Kunsthändler Johann Weiß, überließ die Entscheidung der ganz und gar nicht naiven, selbstbewussten Schönheit, der aber vor dem „ollen Schopenhauer“ so ekelte, dass sie den Antrag des Vierzigjährigen ablehnte.

Er habe für die Ehe weder Mut noch Fähigkeit noch Beruf begründete Arthur sein Scheitern in Sachen Partnerschaft und Liebe. „Der Verlust der freien Verfügung über meine eigene Person ist ein weit größeres Uebel als der Vortheil, der mir aus dem Gewinn einer andern erwachsen kann“, tröstete er sich, „auch ist es schlechterdings unmöglich, daß ich mit einem Weibe glücklich wäre, welches nicht glücklich mit mir ist: da ich nun hauptsächlich in meiner Gedankenwelt lebe, Gesellschaft und Lustbarkeiten nicht liebe, überdies nicht immer guter Laune bin, so ist wenig Hoffnung vorhanden“.  Arthur suchte – seiner Schwester gar nicht unähnlich – nach aufrichtiger und ausschließlicher Liebe; ein Idealist, der zum Zyniker wurde.

Auch die Liaison mit Caroline Richter währte nur, bis er 1831 vor der Cholera aus Berlin flüchtete. Sie hatte ihm versprochen, die Stadt mit ihm zu verlassen. Aber seine Forderung, den fremden Sohn nicht mitzunehmen, konnte sie nicht erfüllen. Sie blieb. Arthur traf das tief, fast kann man sie für die Liebe seines Lebens halten.  In seinem Testament von 1859 vermachte er ihr ein Legat von 5000 Talern. „Liebe und Vernunft führen auf getrennten Wegen zur Ehe, denn das Konvenienz und leidenschaftliche Liebe Hand in Hand gingen, ist der seltenste Glücksfall“, fasste er seine Erfahrungen zusammen.

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[Mit freundlicher Genehmigung des Reclam-Verlages aus: Kein Glück ohne Freiheit. Die Familie Schopenhauer, Stuttgart 2022, S. 171 ff., dort auch Zitatnachweis]





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