In den Sommermonaten kam Schiller die Idee zu einem neuen Beitrag für die “Thalia”. Im Mai war in der “Berlinischen Monatsschrift” ein kommentiertes Gedicht Elisa von der Reckes erschienen, in dem sie vor dem illustren Grafen Cagliostro als Frauenverführer und spiritistischen Betrüger warnte und dichtete: Wohl mir! Ich habe keinen Sinn/ Für Glauben ans Unglaubliche!(68) In der Juli-Ausgabe des Journals erscheint eine Gegenrede des württembergischen Prinzen Friedrich Heinrich Eugen, welcher der Autorin in fast allen Punkten Recht gibt, aber dennoch darauf verweist: bei Gott sei kein Ding unmöglich.(69) Der Prinz war Rosenkreuzer und Freimaurer und galt, obwohl nur Vierter in der Erbfolge, als protestantische Hoffnung im katholisch regierten Württemberg.
Das ist der Stoff, aus dem der gebürtige Württemberger Schiller eine Geschichte um Geisterbeschwörung, politische Intrigen und Liebe macht. Der Autor trifft damit genau einen Nerv seiner Zeit, in der neben den Vernunftgebaren der Aufklärung eine spiritistische Gegenströmung wirkte. In Rosenkreuzer-, Illuminaten-, Jesuiten- und Freimaurerlogen verwirrten und amüsierten schillernde Figuren in okkulten Sitzungen die Sinne der Anwesenden mit Geisterbeschwörungen. “Der Geisterseher” führt die Leser mit den Memoiren des Grafen O** in dieses spektakuläre Milieu. Es lag durchaus keine wahre Geschichte dabei zugrunde, sondern Schiller, der nie einer geheimen Gesellschaft angehörte, wollte bloß in dieser Gattung seine Kräfte versuchen, erinnert sich Körner, selbst Mitglied der Dresdner freimaurischen Schwerterloge.(70)
Der erste Teil der literarischen Fingerübung erscheint 1787 im Vierten Heft der “Thalia” und wird zu Schillers größtem kommerziellen Erfolg. Lustig ist es doch, daß man endlich auf den Gedanken kömmt, dieses Journal für etwas zu halten, spottet Schiller in einem Brief an Göschen.(71) Der Fortsetzungsroman spielt mit allen Regeln des neuen Genres, mit mysteriösen Auftritten, kurzen Handlungsbögen und “Cliffhangern”, die nur noch nicht so hießen, aber ihre Wirkung nicht verfehlten. Meisterhaft geschrieben, befindet der Rezensent der “Gothaischen gelehrten Zeitung”, die Erzählung bricht da ab, wo man der Auflösung nahe zu seyn glaubt. Wir sehen der Fortsetzung mit Verlangen entgegen. Gewiß wird sich der Herausgeber seinen Lesern sehr verbinden, wenn er ihre gespannte Neugier so bald als möglich befriedigt.(72) Die Leser mussten sich über ein Jahr gedulden, der zweite Teil erschien erst im Mai 1788. Schiller ist bereits in Weimar. Nicht con amore gearbeitet, stellt Körner fest und hält die Geschichte damit für abgeschlossen – Wenigstens macht sie nun als Fragment ein Ganzes, wenn sie gleich die Forderungen der Leser nicht befriedigt, die den weiteren Verlauf gern wissen möchten.(73)
Schiller enttäuscht die Leser nicht und schreibt noch drei Folgen. Eine Herzensangelegenheit wird ihm “Der Geisterseher” nie. Ich sitze in Todesschweiß, gesteht er Körner im März 1788, Dem verfluchten Geisterseher kann ich bis diese Stunde kein Interesse abgewinnen; welcher Dämon hat ihn mir eingegeben!(74) Und zwei Wochen später: Der Geisterseher, den ich eben jezt fortsetze, wird schlecht – schlecht, ich kann nicht helfen. Es gibt wenige Beschäftigungen, die Correspondenz mit dem Fräulein von Arnim nicht ausgenommen, bei denen ich mir eines sündlichen Zeitaufwands so bewußt war, als bei dieser Schmiererei. Aber bezahlt wird es nun einmal...(75). Besser bezahlt als alles was Schiller sonst noch schrieb, einschließlich der historischen Abhandlungen, die er nur als Oekonomische Schriftstellerei betreiben wollte. “Der Geisterseher” bleibt unvollendet. Aber das Fragmentarische, Gattungsübergreifende, Mystische und erzählerisch Verschachtelte, eher im widerwilligen Schreibprozess begründet als künstlerisch beabsichtigt, weist auf die Literatur der Romantik voraus, deren Vertreter Schiller freilich nie als einen der ihren betrachten werden.
(68) Elisa von der Recke, Elisa an Preißler, in: Berlinische Monatsschrift 1786,S. 385 - 397, hier S. 392
(69) Eugen Friedrich Heinrich Herzog von Württemberg, Ueber Elisens Aufsatz im Mai der Berliner Monatsschrift 1786, in: Berlinische Monatsschrift 2 1786, S. 1 - 8, hier: S. 5
(70) Christian Gottfried Körner, Nachrichten von Schillers Leben, Friedrich Schillers sämmtliche Werke, hrsg. v. Christian Gottfried Körner, Bd. 1, Stuttgart Tübingen 1812, S. XV f.
(71) NA (= Nationalausgabe) 24, S. 84
(72) Gothaische gelehrte Zeitung, 49. Stück, 20. Juni 1787, S. 405
(73) NA 33 I, S. 187
(74) NA 25, S. 25
(75) NA 25, S. 30
Auszug aus: Friedrich Schiller in Dresden, Morio Verlag Heidelberg 2014,
S. 54 - 57