Erich Kästner
1899 - 1974
"Ich musste, was schön sei, nicht erst aus Büchern lernen ... Ich durfte die Schönheit einatmen wie Försterkinder die Waldluft." Mit Mitte 50 schreibt der Schriftsteller eine Liebeserklärung an Dresden.
»Was mr nich gann, dadervon soll mr de Finger lassn. Mußdnse den barduh unsre Schbrache nachmachn, wosese doch gar nich genn? Hä?« Der geborene Dresdner Kästner "gann", und er zeigt 1928 in der "Neuen Leipziger Zeitung" seinem Berliner Kollegen Ernst Toller, wie es geht. Der hatte sich erlaubt, ein kleines Prosastück mit einer sächsischen Pointe zu versehen. Damals wie heute vermeintlich eine billige Lachnummer, dieser Dialekt, Opfer drittklassiger Spaßvögel.
Die Sachsen nehmen es mit Humor und schreiben »oarschwärgleibleede« und »sgladschglei« an die Heckscheiben ihrer Autos, Buchstabenhäufungen, die nur Eingeweihte als Ankündigung eines Wutausbruchs oder einer Ohrfeige verstehen. Denn »Wir sinn nich so gemiedlich, wie wir schbrechen«, stellt Kästner in einem seiner Sächsischen Sonette klar, »Wir hamm, wenns sein muß, Dinnamit im Bluhd./ Da kennse Gifd droff nähm, daß wir uns rächn!«
Die Kampfansage »Als einer über den Dialekt lachte« entstand 1927, ein Jahr nachdem er als freier Schriftsteller im erzfeindlichen Berlin zu arbeiten begonnen hatte. Ab 1945 wird er in München leben, aber seine Herkunft lässt ihn nicht los: »Wenn es zutreffen sollte, daß ich nicht nur weiß, was schlimm und hässlich, sondern auch, was schön ist, so verdanke ich diese Gabe dem Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein«.
Viele Figuren seiner Gedichte und Romane und auch das Milieu, in dem sie angesiedelt sind, spiegeln liebevoll, scharfsinnig und voll hinterhältiger Harmlosigkeit die Welt, aus der er stammt. Kästner ist ein Kind der Dresdner Neustadt, des Viertels gegenüber der barocken Altstadt, von ihr schon immer durch mehr getrennt als die Elbe. Selten verlässt er die vertrauten Straßenzüge, nur zu besonderen Anlässen, wenn Mutter und Sohn Stehplätze in Schauspielhaus oder Oper ergattern, wenn er zur Weihnachtszeit über die »abendlich funkelnde Prager Straße« bummelt oder wenn er verzweifelt die Elbbrücken absucht, weil die Mutter wieder einen ihrer Abschiedszettel auf dem Küchentisch hinterlassen hat. »Es ist schon wieder gut«, flüstert sie dann und lässt sich von ihm nach Hause bringen.
Die Sorge um das Wohl der Mutter begleitet ihn für immer. Ida Kästner, geborene Augustin, Hausfriseurin, ist das Band, das ihn fest an Dresden bindet. Es gibt auch einen Vater, den Sattlermeister und Fabrikarbeiter Emil Kästner (oder zwei Väter, wenn man dem späten Gerücht glauben will, der jüdische Hausarzt Emil Zimmermann sei der leibliche Vater gewesen), aber für den Literaten war sein liebes gutes Muttchen der wichtigste Mensch seines Lebens. Und die wichtigste Frau. Keine stand ihm so nah, nicht seine erste große Liebe Ilse Julius, die er noch in Dresden kennenlernte, nicht Friedl Siebert, jahrelange Geliebte und Mutter seines Sohnes Thomas, nicht Luiselotte Enderle, jahrelange Lebensgefährtin und seine Biographin, keine seiner Liebschaften.
Ein Kind der Königsbrücker Straße
Die Straßen, in denen Kästner aufwuchs, blieben von den Bombenangriffen 1945 zu großen Teilen verschont. Mietskasernen mit gebohnerten Stufen, Hinterhöfe mit Klopfstangen, kleine Läden und Kneipen – ein seltenes Stück Vorkriegsdresden. Nur die Dreikönigskirche, wo er getauft und konfirmiert wurde, hat einen Treffer abbekommen.
Der Verfall des Gründerzeitviertels beginnt in den Jahrzehnten nach dem Krieg. Die Wiederentdeckung erfolgte Ende der 1980er-Jahre. Erst kam die alternative Szene mit Kneipen und Kunst, dann kam der Kommerz und mit ihm die Proteste der Anwohner gegen Nobelsanierung und Verkehrsausbau. Kästners Viertel der kleinen Leute steht wieder eine Veränderung bevor...
Auszug aus: Dresden. Eine Stadt in Biographien. MERIANporträts, Travel House Media, München 2014, S. 130 - 133